Hören ist mehr als Schallwahrnehmung
Das Hören ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die unser Körper rund um die Uhr leistet. Das Gehör wandelt permanent Schwingungen der Luft zuerst in akustische mechanische, dann in elektrische Signale um, die unser Gehirn zuordnet und interpretiert. Dabei nimmt das Hören verschiedene Funktionen wahr, zum Beispiel die Lokalisationsfunktion: Je nachdem, aus welcher Richtung ein Geräusch stammt, wird es von einem Ohr etwas früher wahrgenommen als von dem anderen. Aus dieser Zeitdifferenz errechnet unser Gehirn blitzschnell die Richtung der Geräuschquelle. Besonders ausgeprägt ist diese Funktion in der Tierwelt beispielsweise bei Fledermäusen, die ihr Gehör als Radar zur Ortung von Gegenständen nutzen.
Schall pflanzt sich fort
Über verschiedene Stationen muss der Schall den Weg vom Außenohr zum Hörnerv zurücklegen: Schallwellen regen die Ohrmuschel an, welche die Schwingungen wie ein Trichter aufnimmt und durch den äußeren Gehörgang an das Trommelfell weiterleitet. Dieses empfindliche Häutchen gerät dadurch selbst in Schwingung, die es wiederum an die Gehörknöchelchen überträgt. Hier, am Übergang zwischen Trommelfell und der filigranen Knochenkonstruktion – bestehend aus Hammer, Amboss und Steigbügel – wird der Schalldruck um den Faktor 20 verstärkt.
Interner Klangverstärker
Die Verstärkung ist notwendig, damit die mechanischen Signale durch die träge Flüssigkeit im Innenohr bis zur Gehörschnecke – der Cochlea – vordringen können. Der Faktor 20 kommt durch den Größenunterschied zwischen Trommelfell und Steigbügel-Knöchelchen zustande: Gemäß der physikalischen Formel Druck gleich Kraft durch Fläche (p = F/A) vergrößert sich der Druck bei gleichbleibender Kraft, je kleiner die Fläche wird, auf die der Schall trifft. Da die Fläche des Steigbügels etwa zwanzigmal kleiner ist als das Trommelfell, wird der Schalldruck um das Zwanzigfache größer.
Elektrische Impulse aus mechanischen Schwingungen
Der bewegliche Fuß des Steigbügels überträgt den verstärkten Schalldruck an die Cochlea. Im Inneren dieses Schneckenhauses befindet sich eine Membran, die in Schwingung versetzt wird und dadurch in der sie umgebenden Flüssigkeit Wellen auslöst. Hier sitzen Rezeptoren, die auch als Haarzellen bezeichnet werden. Sie nehmen die Wellenbewegungen auf und übersetzen sie in elektrische Impulse, die der Hörnerv an das Gehirn weiterleitet. Der sogenannte auditive Cortex, das Hörzentrum des Großhirns, entschlüsselt die Reize. Er unterscheidet Straßenlärm von Musik und versteht, wenn jemand mit uns spricht.
So vielfältig und komplex wie der Weg des Schalls sind auch die Funktionen, die das Hören für uns erfüllt. Sie umfassen weit mehr als die bloße Wahrnehmung von lautem oder leisem Schall. Betrachten wir im Folgenden einige Funktionen etwas näher: Die Ortungs- oder Lokalisationsfunktion, die Warnfunktion und die (Gehirn-)Aktivierungsfunktion.
Ortungsfunktion 1: Richtungshören
Die Lokalisation von Schallquellen erfolgt anhand der Bestimmung ihrer Richtung (durch das Richtungshören) und ihrer Entfernung (durch das Entfernungshören) zu unseren Ohren.
Das Richtungshören wird ermöglicht, da wir über zwei Ohren verfügen, die sich – im Gegensatz zur Schallquelle – nicht an ein und demselben Ort befinden. Daher erreichen Schallwellen, die zum selben Zeitpunkt von einem Ort übertragen werden, unsere Ohren nicht gleichzeitig. Vor allem bei der Bestimmung der Richtung sogenannter Impulsklänge, z.B. einem Knall, spielt die Verzögerungszeit eine große Rolle:
Ertönt z.B. ein lauter Knall in unserer rechten Gesichtshälfte, erreichen die Schallwellen zuerst das rechte – und mit einer Verzögerung im Millisekundenbereich – etwas später das linke Ohr. Diese minimale Differenz genügt dem Gehirn um zu erkennen, wo sich die Schallquelle befindet.
Ortungsfunktion 2: Entfernungshören
Als Entfernungshören bezeichnet man die abschätzende Bestimmung, wie weit entfernt sich eine Schallquelle vom Hörenden befindet.
Während unsere Fähigkeit zum Entfernungssehen mit zwei nebeneinander liegenden Augen sehr gut ausgebildet ist, vermag unser Ohr die Entfernung zu einer Schallquelle nur mangelhaft zu bestimmen. Anders als beim Richtungshören werden beim Entfernungshören keine Signaldifferenzen genutzt, also keine Verzögerungen wie beim beidohrigen (binauralen) Richtungshören. Hilfreich ist uns vielmehr der Vergleich des Signals mit erlernten Reizmustern; das heißt, am leichtesten fällt uns die Entfernungsbestimmung von uns bekannten akustischen Signalen.
Wenn uns z.B. die Lautheit einer bestimmten Schallquelle (Schuss, Trompetensignal, menschliche Stimme) aus einer bestimmten Entfernung bereits vertraut ist, können wir anhand der geringeren Lautstärke eines solchen vertrauten Signals abschätzen, in welcher Entfernung sich seine Schallquelle befindet. Bei unbekannten Schallquellen fällt uns das schwerer, da uns der Vergleich fehlt.
Eine weitere Hilfe beim Entfernungshören ist die Tatsache, dass hohe Frequenzen stärker von der Luft absorbiert werden als tiefe. Das Klangspektrum eines akustischen Signals wird daher in Abhängigkeit von der Entfernung des Hörenden zur Schallquelle verändert. Mit zunehmender Entfernung klingt ein Schallereignis dumpfer. Bei bekannten Schallereignissen können wir daher auch aus der Veränderung ihres Klangcharakters auf die Entfernung schließen.
Warnfunktion: Auch nachts hellwach
Anders als unsere Augen können wir unsere Ohren nicht einmal im Schlaf verschließen. Wir sind akustisch immer empfangsbereit. Dies ist der evolutorischen Warnfunktion des Hörens zuzuschreiben. Da die Augen geschlossen sind, haben sich unsere Vorfahren beim Schlafen vor allem auf ihr Gehör verlassen, um Gefahren durch Feinde, Tiere oder das Wetter zu erkennen. Daher können auch leise (potenziell bedrohende) Geräusche – etwa Schritte, das Klappen einer Tür oder Dielenknarren – vom Gehirn gezielt aufgegriffen werden und uns aufwecken. Das heißt nicht, dass diese Geräusche unbedingt laut sein müssen; unsere Ohren sind im Schlaf sogar besonders schallempfindlich. Schon Geräusche ab einem Schallpegel von 40 Dezibel, die wir tagsüber nicht als störend oder alarmierend wahrnehmen, können uns nachts wecken.
Menschen, die aufgrund einer Hörminderung Hörsysteme nutzen, legen diese üblicherweise nachts ab. Dennoch müssen sie nicht auf eine Warnfunktion verzichten. Welches Zubehör Sicherheit auch im Schlaf ermöglicht, erklären wir hier.
Aktivierungsfunktion: Stimulation für das Gehirn
Eine nicht zu vernachlässigende Funktion des Hörens ist die Aktivierung unseres Gehirns. Unser Gehirn benötigt akustische Reize, um die für das Hören verantwortlichen Bereiche „in Betrieb“ zu halten. Diese Bereiche werden als Hörzentrum, Hörrinde oder auditiver Cortex bezeichnet. Sie sind jener Bereich der Großhirnrinde, der akustische Reize verarbeitet und uns ihrer überhaupt bewusstwerden lässt. Erreichen den auditiven Cortex – etwa aufgrund einer unversorgten Schwerhörigkeit – über längere Zeit weniger oder keine Signale mehr, hat das einen Abfall der kognitiven Leistungsfähigkeit des Gehirns zur Folge. Mehr Informationen hierzu finden Sie in unseren Beiträgen über Demenz und über das Verlernen guten Hörens.
Weitere wichtige Funktionen des Hörens, die wir in anderen Beiträgen näher beschreiben, sind z.B. die akustische Wahrnehmung bestimmter Emotionen und die kommunikative Funktion des Hörens. Ganz wesentliche Bedeutung kommt dem Hören auch für die Sprachentwicklung zu. Über die sprachfördernde Funktion des Hörens für Kinder lesen Sie hier mehr.
Testen und Versorgen – So bewahren Sie die Funktionen des Hörens
Um alle genannten – und weitere – Funktionen des Hörens zu bewahren, ist es wichtig, sein Gehör regelmäßig testen und eine Hörminderung im Bedarfsfall rechtzeitig versorgen zu lassen. Der Verlust der Funktionen des Hörens bedeutet ein höheres Unfallrisiko (Verlust des Entfernungs- und Richtungshörens), eine höhere Sturzgefahr, ein höheres Risiko der sozialen Isolation und Depression (Verlust der Wahrnehmungsfunktion von Sprache und Emotionen) und er erhöht das Risiko eines kognitiven Leistungsverfalls, der eine Demenz begünstigen kann (Verlust der Aktivierungsfunktion). Internationale Studien belegen, dass unter allen potentiell beeinflussbaren Risikofaktoren einer Demenzerkrankung die Versorgung einer Hörminderung im mittleren Lebensalter der wichtigste ist. Machen Sie daher einen Hörtest bei einem Hörakustiker und zögern Sie nicht, beim Verdacht auf eine Hörminderung einen HNO-Arzt zur Abklärung der Symptome aufzusuchen.