„Ich habe mir Lebensqualität einoperieren lassen!“
Pia ist 35 Jahre alt und von Geburt an fast taub. Im Alter von zwei Jahren bekam sie Hörgeräte, mit 28 ließ sie sich beidseitig Cochlea-Implantate einsetzen. Neben ihrer Arbeit als Grafikdesignerin berät und begleitet sie als Audio-Therapeutin Menschen mit einer Höreinschränkung. Die Hörbotschafterin der Kampagne „Das Leben gehört gehört!“ erzählt uns ihre Geschichte im Interview.
Pia, wir freuen uns sehr, dass Sie unsere Kampagne „Das Leben gehört gehört!“ als Hörbotschafterin begleiten.
Wie haben Sie Ihre Zeit ohne Cochlea-Implantate in Erinnerung?
Für mich war es normal, fast nichts zu hören. Ich kannte es ja nicht anders, da ich von Geburt an nahezu taub war. Sprache konnte ich gar nicht verstehen, weil eher die hohen Töne und Frequenzen problematisch waren. Tiefe Töne, wie z. B. Donner bei einem Gewitter, konnte ich wahrnehmen. Mit zwei Jahren bekam ich Hörgeräte, da diese aber ein ausreichendes Resthörvermögen voraussetzen, das sie verstärken können, wurden nur die dunklen, tiefen Bereiche lauter. Zur Wahrnehmung der für das Sprachverstehen wichtigen höheren Frequenzen reichte das nicht aus.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie handeln müssen?
Mit meiner Diagnose war ich eigentlich eine perfekte Kandidatin für Cochlea-Implantate. Ich wollte mich aber lange nicht damit auseinandersetzen. Als Teenager wollte ich nichts über mein Problem hören. Nach außen hin habe ich immer so gelebt, als ob ich nicht schwerhörig sei. Ich hatte das Lippenlesen perfekt drauf. Ich habe zwar meine Hörgeräte immer konsequent getragen, weil es ohne gar nicht ging. Aber mir war wichtig, dass man die nicht sieht. Klar, mein Umfeld wusste es, aber freiwillig habe ich nichts darüber erzählt. Das hat auch lange gut für mich funktioniert – bis ich dann ins Berufsleben eingestiegen bin.
Was hat Sie in dieser neuen Lebenssituation zum Umdenken gebracht?
Ich habe acht Jahre im Bereich Grafikdesign gearbeitet. In diesem Beruf ist Stress keine Seltenheit. Da habe ich gemerkt: Das funktioniert so nicht mehr. Telefonieren? Ging nicht. Teambesprechungen inhaltlich folgen? Nahezu unmöglich. Acht bis zehn Stunden täglich zu arbeiten ist ja schon anspruchsvoll und anstrengend. Dazu noch die Schwerhörigkeit ausgleichen, überforderte mich und war kräftezehrend. Irgendwann bin ich in ein tiefes Loch gefallen, bekam Panikattacken, habe mich komplett zurückgezogen, Menschenmengen oder Verabredung vermieden. Es hat rund ein Jahr gedauert, bis ich mit Hilfe meines Arztes meine mentale Verfassung mit meiner Schwerhörigkeit in Verbindung gebracht habe. Dann habe ich mich für die Implantate und zu einer Operation entschieden. Das war ziemlich aufregend.
Wie war es, nach der Cochlea-Implantat-OP zum ersten Mal wieder zu hören?
Fünf Wochen nach meiner OP wurde das Implantat das erste Mal eingeschaltet. Ich bin da, zugegeben, ganz schön ungeduldig und hatte eine ziemlich hohe Erwartungshaltung. Ich wollte mindestens genauso gut hören wie vorher mit den Hörgeräten, und das möglichst schnell! Dem war allerdings erstmal nicht so. Die Geräte wurden eingeschaltet und ich hörte… nichts! Zumindest war das mein Empfinden. Ich hatte zwar das Gefühl, dass irgendetwas passiert, aber ich wusste zuerst nicht, was das überhaupt ist. Ich hatte ja keine Ahnung, wie es ist zu hören. Dein Gehirn versucht diese seltsamen neuen, ungewohnten Impulse einzuordnen und sucht nach Referenzen, die es bei mir ja, zumindest erstmal, nicht gab.
Wie verlief der Gewöhnungsprozess an die Cochlea-Implantate weiter?
Ich habe mir definitiv Lebensqualität einoperieren lassen. Alles war krass, aufregend und neu. Zu Beginn hat sich für mich erst einmal alles gleich angehört. Ich konnte die Türklingel nicht vom Toaster unterscheiden. Ich bin in meiner Wohnung oft an die Tür gegangen, weil ich dachte, jemand steht dort und hat geklingelt. Das ging dann aber von Tag zu Tag immer besser. Ich entdeckte neue Geräusche und lernte sie einzuordnen. Mein Leben lang hatte ich ja nur Dinge gehört, die auch in meinem Sichtfeld waren.
Mit der Kampagne „Das Leben gehört gehört!“ will der Bundesverband der Hörsysteme-Industrie (BVHI) das Bewusstsein für gutes Hören schärfen und darüber informieren, wie man seinen Hörsinn lange erhalten und im Bedarfsfall bestmöglich versorgen kann. Die Hörbotschafter unterstützten dabei. Die Mission: Menschen zu motivieren, ihr Gehör regelmäßig überprüfen und im Falle eines Hörverlustes rechtzeitig professionell versorgen zu lassen.
Wie haben Sie die Welt durch Geräusche neu entdeckt?
Oft bin ich durch die Wohnung gelaufen, habe nach der Quelle eines Geräusches gesucht. Dabei habe ich mir auch von Freunden oder meiner Mutter Hilfe geholt und gefragt: ‚Was höre ich da gerade?‘ Zum Beispiel der Rasenmäher draußen vom Nachbarn. Dieser war für mich neu, das Geräusch kannte ich nicht. Oder Geräusche, die für andere total alltäglich sind: Ich wusste beispielsweise nicht, dass eine Tür quietschen kann. Ich habe mich wie ein neugeborenes Kind verhalten, das die Welt neu entdeckt. Die saugen ja auch alles auf, speichern es ab und lernen, es einzuordnen.
Heute lieben Sie Musik. Haben Sie sie neu für sich entdeckt?
Das klingt vielleicht seltsam, aber ich hab früher schon gerne Musik ‚gehört‘ und dazu auch getanzt. Den Bass konnte ich immer im Körper fühlen, wie in dem Grönemeyer-Song ‚Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist‘. Früher fand ich beispielsweise Rockmusik schrecklich, weil in meinem Empfinden alles nur gescheppert hat. Aber auch die höre ich mittlerweile sehr gerne.
Was hat sie dazu bewegt, Audio-Therapeutin zu werden?
Nach der Operation habe ich mich dann noch einmal beruflich neu orientiert: von der Grafikdesignerin zur ausgebildeten Audio-Therapeutin in einer Reha-Klinik und schließlich zur Service und Care-Spezialistin bei einem Anbieter elektromedizinischer Hörsysteme. Ich weiß ja, was es für Bedenken, Probleme, Erwartungshaltungen und vor allem Missverständnisse – im besten Sinne des Wortes – bei Betroffenen gibt. Ich habe das alles selbst erlebt. Umso schöner, dass ich Menschen genau dort abholen und sie begleiten kann.
Vielen Dank für das Gespräch.
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