„Es ist unser Ziel, Menschen hörend zu machen“
Wenn Hörgeräte nicht mehr helfen, gibt es dennoch eine Möglichkeit für Menschen mit einer hochgradigen Schwerhörigkeit wieder zu hören: durch das Einsetzen eines Cochlea-Implantats (CI).
Auf einen Blick
- Cochlea-Implantate: eine echte Alternative, wenn Hörgeräte nicht mehr helfen
- Keine Altersbeschränkung für die Implantation eines CI – weder für Babys noch für Ältere
- Hörtraining nach der Implantationsoperation
Kommen Hörgeräte an ihre Grenzen, können viele Menschen mit einem schweren oder hochgradigen Hörverlust dank Cochlea-Implantat (CI) wieder hören und aktiv am Leben teilnehmen. Wann Menschen mit einer Schwerhörigkeit über ein Cochlea-Implantat nachdenken sollten und was dabei zu beachten ist, haben uns die beiden HNO-Fachärzte Prof. Prof. h. c. Dr. med. Thomas Lenarz und Prof. Dr. med. Timo Stöver erklärt.
Prof. Prof. h. c. Dr. med. Thomas Lenarz ist Professor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Direktor an der HNO-Klinik und des Deutschen Hörzentrums Hannover der Medizinischen Hochschule Hannover. Außerdem Sprecher des Forschungsverbundes Hearing4All der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist international anerkannter Spezialist für Cochlea-Implantate, implantierbare Hörsysteme und Hirnstamm-Implantate.
(Bildrechte: MED-EL)
Prof. Dr. med. Timo Stöver ist Direktor der der HNO-Klinik der Goethe-Universität Frankfurt. Ein besonderer Schwerpunkt liegt in der Diagnostik und Behandlung von schwerhörigen und gehörlosen Kindern und Erwachsenen. Neben der mikrochirurgischen Hörverbesserung kommen implantierbare Mittelohrhörsysteme sowie Cochlea-Implantate zur Anwendung.
(Bildrechte: Prof. Stöver)
Ihr-Hörgerät.de: Herr Prof. Prof. h. c. Dr. med. Lenarz, als Spezialist für CIs und implantierbare Hörsysteme setzen Sie sich täglich dafür ein, dass Menschen dank Cochlea-Implantat wieder hören. Gemeinsam mit einigen anderen Experten engagieren Sie sich für die Initiative „Endlich Wieder Hören“. Welches Ziel hat diese Initiative?
Prof. Lenarz: „Es ist unser Ziel, Menschen hörend zu machen. Die Initiative „Endlich Wieder Hören“ ist ein wichtiger Botschafter, um die Gesellschaft für die Auswirkungen von Hörsystemen zu sensibilisieren. Sie soll Betroffene über Möglichkeiten der Hörsystemversorgung informieren. Leider werden Hörstörungen noch immer bagatellisiert und die Betroffenen nehmen erhebliche Einschränkungen ihrer Lebensqualität in Kauf.
Insbesondere im Zusammenhang mit einer möglichen Demenz kann eine nicht versorgte Hörstörung die Auswirkungen verstärken: Wer nicht gut hört, zieht sich aus der Gesellschaft zurück und denkt nicht mehr mit. Er trainiert somit das Mitdenken nicht mehr und vereinsamt sowohl persönlich als auch im Denkprozess.
Bei uns in der HNO-Klinik haben bereits mehr als 10.000 Menschen ein Hörimplantat erhalten und können damit wieder aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihren Beruf ausüben. Und für gehörlos geborene Kinder ist das CI eine Voraussetzung, um überhaupt Sprache und Sprechen zu lernen. Nur dann kann auch, wie wir schon bei so vielen Patienten erlebt haben, eine Regelschule besucht und eine normale Berufsausbildung bis hin zum Studium absolviert werden.“
Ihr-Hörgerät.de: Viele Menschen können dank Cochlea-Implantat wieder hören. Wann kommt ein CI denn überhaupt in Frage?
Prof. Stöver: „Früher bestand die Indikation zu einem CI nur bei kompletter Taubheit, es galt eher als eine Unterstützung beim Lippenlesen. Heute haben wir viele Patienten mit Restgehör – das ist sogar erwünscht, denn Resthörigkeit ist ein sehr positiver Faktor.
Meist ist die Versorgung mit einem CI schon dann wirkungsvoller, wenn mit dem Hörgerät weniger als die Hälfte verstanden wird – das kann man genau messen. Die Erfolgsaussichten, dass man in diesem Fall mit einem CI besser versorgt ist, sind enorm hoch. Um das Restgehör möglichst zu schützen und zu nützen, werden CI und Hörgerät, wenn möglich, kombiniert. In schwierigen Situationen, etwa bei lauten Umgebungsgeräuschen oder beim Richtungshören, sind diese Patienten dann klar im Vorteil.“
Prof. Lenarz: „Natürlich ist die Versorgung auch auf beiden Seiten sinnvoll. Insbesondere dann, wenn das Restgehör kein ausreichendes Sprachverstehen mit einem Hörgerät mehr ermöglicht. Von besonderer Bedeutung ist heute die Versorgung von Patienten mit einer Hochtontaubheit. Aufgrund ausgefeilter Operationstechniken und verfügbarer atraumatischer Elektroden ist es möglich, das Restgehör bei der Implantation zu erhalten und so dem Patienten die Nutzung eines sog.
Hybridsystems für die elektro-akustische Stimulation zu ermöglichen. Damit kann der Patient sein noch vorhandenes Restgehör weiter nutzen und erhält durch das Cochlea-Implantat die fehlende Information, vor allem in den hohen Hörfrequenzen wieder zurück. Dies hat erhebliche Vorteile für das Sprachverstehen im Störgeräusch, beim Musikhören und beim Richtungshören.“
Ihr-Hörgerät.de: Gibt es denn eine Altersbegrenzung für die Implantation von CIs?
Prof. Stöver: „Das biologische Alter ist bei uns nie der limitierende Faktor. Bei uns werden auch Menschen im Alter von achtzig, fünfundachtzig oder neunzig Jahren versorgt. Voraussetzung ist, dass die kognitiven Fähigkeiten da sind und dass ein Patient wieder hören will.
Auch eine starre Altersuntergrenze gibt es nicht. Natürlich muss die Diagnose sicher stehen und die Operation mit minimalem Risiko möglich sein. Üblicherweise ist das ab dem vierten bis sechsten Lebensmonat der Fall. Generell bemüht man sich, möglichst früh zu operieren. Aber selbst, wenn ein Patient 10, 15 oder 20 Jahre gehörlos war, hat er eine Chance, auf diesem Ohr das Hören wieder zu erlangen.
Dennoch schaut man natürlich, dass man bei taub geborenen Kindern so früh wie möglich das Hören herstellt, denn in den ersten Jahren schreitet die Sprachentwicklung sehr schnell voran. Mit fünf oder sechs Jahren sind die Erwartungen und Möglichkeiten in Bezug auf eine normale Sprachentwicklung dann schon deutlich eingeschränkter. Die Frage ist allerdings auch immer: Was werte ich als Erfolg? Ich kann nur betonen: die absolute Mehrheit der Patienten profitiert von einem Cochlea-Implantat.“
Prof. Lenarz: „Die Implantation ist eine verantwortungsvolle Tätigkeit, die vor allem an entsprechenden Zentren mit ausreichender Erfahrung durchgeführt werden sollte. Heute ist es möglich, die Operation auch bei kleinen Kindern sicher durchzuführen. Weiterhin kann die Operation auch in örtlicher Betäubung durchgeführt werden, was insbesondere für ältere Menschen mit ggf. erhöhtem Narkoserisiko von Bedeutung ist.“
Implantation eines CI
Vor einer Cochlea-Implantat OP führen HNO-Kliniken zunächst eine umfassende Voruntersuchung durch. Die Operation für die Implantation ist ein Routineeingriff und dauert etwa ein bis drei Stunden. Die meisten Patienten können schon am nächsten Tag aufstehen, sollten allerdings nicht erwarten, dass sie schon nach dem Aufwachen wieder perfekt hören.
Ihr-Hörgerät.de: Auch wenn viele Menschen dank Cochlea-Implantat wieder hören können, passiert das nicht einfach so nach der Implantation.
Prof. Stöver: „Nein, für uns ist die Arbeit nicht mit dem kleinen Eingriff der Implantation getan, sondern wir sehen uns weiterhin als Ansprechpartner, auch Jahre danach. Das Hörenlernen beginnt oft erst mit der Operation. Wie gut sich Patienten entwickeln, ist immer wieder erstaunlich. Daher freuen wir uns über alle Rückmeldungen, denn nur so lernen auch wir Ärzte immer weiter dazu.“
Prof. Lenarz: „Die Dankbarkeit der Patienten für das neue Hören, für ihre gesellschaftliche Teilhabe treibt uns Ärzte und Forscher immer wieder an. Es gibt keine schönere Motivation für unsere Arbeit, als zu beobachten, wie sich aus gehörlos geborenen Kindern dank des Cochlea-Implantats junge Menschen entwickeln, die als Ingenieur, Bankkaufmann oder gar als HNO-Arzt ihren Platz in unserer Gesellschaft selbst suchen können.“
Ihr-Hörgerät.de: Herr Prof. Dr. med. Stöver, dennoch fällt es den meisten Menschen mit einem Hörverlust nicht unbedingt leicht, sich aus der Situation zu befreien und sich für ein Hörsystem zu entscheiden, oder?
Prof. Stöver: „Die Entscheidung machen sich die meisten Patienten wirklich schwer. Schließlich kommen sie ja mit ihrer Lage irgendwie zurecht, wurschteln sich oft lange durch. Der Schritt ins vermeintlich Ungewisse ist viel schwieriger. Ich höre von den Patienten allerdings hinterher unisono: ‚Hätte ich gewusst, wie das ist, hätte ich es viel früher gemacht.‘“
Wann ein Cochlea-Implantat notwendig ist, lesen Sie in unserem Beitrag „Wenn es mehr braucht als Hörgeräte“.