Eingelesen statt reingehört
Michael Schwaninger musste früh auf sein Gehör verzichten. Wir haben mit ihm über seinen Lebensweg gesprochen – vom beginnenden Hörverlust bis zur akustischen Wiedergeburt.
Herr Schwaninger, wann haben Sie zum ersten Mal selbst wahrgenommen, dass Sie schlechter hören?
So genau kann ich es gar nicht sagen, denn der Hörverlust verlief schleichend. Vor allem wollte ich es selbst nicht wahrhaben. Mit 15 Jahren bekam ich große Probleme in der Schule, die ich heute auf die fortschreitende Schwerhörigkeit zurückführen kann. So waren meine Diktate voller Rechtschreibfehler, weil ich die Wörter nicht richtig hörte. In Französisch habe ich mich damals besonders schwergetan, weil ich nicht mehr verstanden habe, was der Lehrer sagte. Meine Aussprache war zum Beispiel völlig falsch. Mein Lehrer hielt mich für faul und von meinen Mitschülern wurde ich gehänselt. Auf die Idee, dass mit meinen Ohren etwas nicht stimmte, kam leider keiner meiner Lehrer. Mit 15 wollte ich das Gymnasium deshalb verlassen und eine Ausbildung machen, hatte aber bei den Einstellungstests wegen des Hörverlustes keine Chance – so bin ich dann weiter zur Schule gegangen.
Und wie konnten Sie die Schule bewältigen?
Ab der 11. Klasse fiel mir die Schule etwas leichter, weil ich mir die Fächer nach meinen Neigungen zusammenstellen konnte. Ich habe das Abitur bestanden. Allerdings habe ich bei meiner mündlichen Prüfung fast nichts mehr verstanden. Das war für mich dann der Auslöser endlich zu einem Hörakustiker zu gehen und einen Hörtest zu machen. Der stellte eine Schwerhörigkeit bei mir fest, damals war ich 19 Jahre alt. Ich bekam mein erstes Hörgerät. Wegen des damaligen Images von Hörgeräten war es mir sehr unangenehm, eines zu tragen. Ich versteckte es stets unter langen Haaren. Zum Glück wird das Image heutzutage zunehmend besser. Die Geräte werden schließlich immer kleiner und haben tolle Funktionen.
Bis dem damals 33-jährigen im Jahr 2001 das erste Cochlea Implantat (CI) eingesetzt wurde, nahm seine Hörfähigkeit kontinuierlich ab. Heute trägt er auf beiden Ohren CIs und kann wieder hören. Um anderen Betroffenen zu helfen, hat er den Cochlear Implant Verband Hessen-Rhein-Main e.V. gegründet und ist Vorstandsmitglied der Deutschen Cochlea Implantat Gesellschaft e.V.. Im ersten Teil des Interviews hat uns Herr Schwaninger erzählt, wie es ihm mit zunehmendem Hörverlust ergangen ist und wie er – an Taubheit grenzend schwerhörig – Schule, Ausbildung und Studium gemeistert hat.
Gehörlos im Hörsaal
Wie ging es nach dem Abitur weiter?
Zunächst machte ich eine Ausbildung zum Industriekaufmann, anschließend bin ich zur Uni und studierte Betriebswirtschaftslehre. Das war auch die Zeit, in der ich mein zweites Hörgerät bekam. Allerdings habe ich trotz meiner Hörgeräte im Hörsaal leider nur wenig verstanden. Deshalb besorgte ich mir die Mitschriften meiner Studienkollegen, um zu wissen, was in der Vorlesung behandelt wurde. Ich habe mich also eingelesen statt reingehört und habe die Prüfungen geschafft. So konnte ich das Studium im Alter von 26 Jahren erfolgreich abschließen. Allerdings hat das Studium meine gesamte Kraft gekostet, soziale Kontakte zu pflegen war da kaum möglich.
Wie schwer war Ihre Hörminderung zu diesem Zeitpunkt?
Trotz Hörgeräten litt ich unter einem mittelgradigem Hörverlust. In einer ruhigen Umgebung konnte ich vieles noch wahrnehmen, hörte ab 40 bis 50 Dezibel. Unterhaltungen zu führen, war für mich nahezu unmöglich. Kino, Musik hören, Disco – all das, was junge Menschen in diesem Alter machen, war für mich tabu. Auch Telefonieren war nicht mehr möglich. Ich musste ständig zum Hörakustiker. Im Januar justierte er meine Hörgeräte, im Juni musste ich dann schon wieder hin und er stellte sie nach. Zu dem Zeitpunkt hat ein HNO-Arzt zu mir gesagt: „Sie haben das Gehör eines 85-jährigen, ich kann nichts für sie tun!“ Ich war damals total verzweifelt und konnte kein Licht am Ende des Tunnels sehen.
Cochlea Implantat bietet neue Perspektiven
Heute sind Sie ein lebensfroher und sehr aufgeschlossener Mensch, was hat Ihnen geholfen?
Eine Arbeitskollegin, deren Mann HNO-Arzt war, ist darauf aufmerksam geworden, wie schlecht es mir in dieser Zeit ging. Deshalb riet sie mir, doch einmal einen Termin bei ihrem Mann zu machen, er könne vielleicht etwas für mich tun. Sie hat mir von der CI-Versorgung erzählt. Das war ein klarer Wendepunkt in meinem Leben.
Lesen Sie im zweiten Teil unseres Gespräches, wie Michael Schwaninger dank seiner CIs zu neuem Lebensmut fand und heute in der Lage ist, Musik zu genießen, Hörbücher auf der Autofahrt zu Hören und das Brutzeln in der Bratpfanne zu erleben.
Weitere Informationen zu Michael Schwaninger sowie zahlreiche Erfahrungsberichte von Menschen, denen ein CI implantiert wurden, finden Sie auf www.ohrenseite.info.