Eine Hörsystemversorgung bei Tinnitus ist das A und O

Eine Hörsystemversorgung bei Tinnitus ist das A und O

Haben eine unbehandelte Schwerhörigkeit und Tinnitus Einfluss auf unser körperliches und seelisches Wohlbefinden? Dazu haben wir ein Interview mit Dr. Matthias Rudolph, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, geführt. Dr. Rudolph zeigt in dem Interview auf, wie eine Hörsystemeversorgung bei Tinnitus und Schwerhörigkeit helfen kann.

Auswirkungen von schlechtem Hören auf mentale und körperliche Gesundheit

Herr Dr. Rudolph, Sie waren 20 Jahre Ärztlicher Direktor der Mittelrhein-Klinik in Bad Salzig, einer Fachklinik für Psychosomatische Rehabilitation. Im Januar dieses Jahres haben Sie sich selbstständig gemacht und sind als Ärztlicher Psychotherapeut in eigener Praxis für Verhaltenstherapie in Boppard am Rhein niedergelassen. Welche Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer Praxis?

Dr. Matthias Rudolph:  Zu meinen Schwerpunkten gehören ADHS im Erwachsenenalter, Psychotherapie bei Post-Covid-Syndrom, Burnout, Stress und Depressionen. Darüber hinaus möchte ich vor allem Menschen mit einer chronischen Schwerhörigkeit und Tinnitus zu mehr Lebensqualität verhelfen.

Wie kann sich denn schlechtes Hören auf die mentale Gesundheit auswirken?

Dr. Matthias Rudolph:  Sie kennen sicher den Spruch: „Nicht sehen trennt von den Dingen, nicht hören von den Menschen!“ Das trifft es genau. Menschen sind soziale Wesen, für eine seelische Gesundheit sind wir auf eine gute Interaktion mit anderen Menschen angewiesen, auch für die soziale Integration. Das ist das Problem bei schlechtem Hören. Denn das führt häufig zu sozialem Rückzug und dann oft zu Einsamkeit und Depression.

Welche körperlichen Beschwerden und Störungsbilder auf seelischer Ebene können damit einhergehen?

Dr. Matthias Rudolph:  Auf der körperlichen Ebene klagen viele Patienten und Patientinnen über Kopfschmerzen, Verdauungs- und Schlafstörungen. Auf der seelischen Ebene gibt es Einschränkungen bei der Konzentration und Aufmerksamkeit, oftmals herrscht aber auch eine niedergedrückte Stimmung, Betroffene sind müde und kraftlos. Die Lebensqualität ist eingeschränkt.

Kann Schwerhörigkeit die Seele also krank machen?

Dr. Matthias Rudolph: Auf jeden Fall! Über den Weg des sozialen Rückzugs und den Verlust von sozialen Kontakten. Es können Depressionen und Angststörungen entstehen. Ich habe schon Menschen mit einer unbehandelten Schwerhörigkeit erlebt, deren Depressionen so schwerwiegend waren, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollten.*

*Es gibt Hilfe, auch in scheinbar ausweglosen Situationen. Versuchen Sie unbedingt, mit jemandem darüber zu sprechen. Hilfe finden Sie unter anderem bei der Telefonseelsorge (0800 111 0 111), der Nummer gegen Kummer (116 111) oder am Info-Telefon der Deutschen Depressionshilfe (0800 33 44 533), im Netz unter:

Behandlung von Schwerhörigkeit mit modernen Hörsystemen

Was können moderne Hörsysteme hier bewirken?

Dr. Matthias Rudolph: Hörsysteme setzen am zentralen Problem an, also dem Hörverständnis. Insofern gehören sie für mich ganz entscheidend zur Therapie mit dazu, weil sie diesen Teufelskreis aus schlechtem Hören, Hörstress und sozialem Rückzug sehr wirkungsvoll durchbrechen.

Wie wirkt sich eine erfolgreiche Behandlung auf das Privat- und Arbeitsleben aus?

Dr. Matthias Rudolph: Einerseits durch die Verbesserung im Hörvermögen selbst, was die soziale Integration wiederum fördert. Andererseits verbessert sich die Stimmung, Betroffene haben wieder mehr Antrieb. Das wirkt sich natürlich auf das Privatleben aus. Man trifft sich wieder mehr mit Freunden und Bekannten, geht wieder aus, ins Kino oder ins Theater. Und am Berufsleben kann man wieder teilhaben und ist integriert.

Einer Ihrer Behandlungsschwerpunkte ist chronischer Tinnitus, zudem sind Sie Mitglied der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL). Was hat Sie bewegt, sich gerade diesem Krankheitsbild anzunehmen und sich dafür zu engagieren?

Dr. Matthias Rudolph: Das reicht in die Zeit meines Studiums zurück. Eine enge Freundin von mir hatte damals einen sehr schlimmen Tinnitus in Verbindung mit Schwerhörigkeit. Damals konnte ihr niemand sagen, was das überhaupt ist und was sie tun kann. Sie war sehr verzweifelt, und ich konnte ihr nicht helfen.

Dann lernte ich auf meiner ersten Dienstreise das Ehepaar Hans und Elke Knör kennen und schätzen. Das sind die Gründungsmitglieder der DTL, und ich war total begeistert. Einerseits von den Möglichkeiten der gesundheitlichen Selbsthilfe und andererseits von den Möglichkeiten, was man alles bei chronischem Tinnitus tun kann. Damals habe ich mir geschworen, dass ich mich für Menschen mit Tinnitus engagieren möchte und habe dieses Versprechen bis heute gehalten.

Die Deutsche Tinnitus-Liga empfiehlt eine wissenschaftliche Leitlinie und explizit den Besuch einer Selbsthilfegruppe. Der Austausch mit Gleichgesinnten hilft gerade am Anfang der Erkrankung. Man hat das Gefühl, dass man nicht alleine ist und die anderen Gruppenmitglieder einen ohne viele Worte verstehen.

Hörsystemversorgung bei Tinnitus

Worunter leiden Menschen, die einen Tinnitus haben, ganz besonders?

Dr. Matthias Rudolph: Meine Erfahrungen zeigen, dass der Kontrollverlust besonders schlimm ist. Denn dieses Ohrgeräusch ist 24/7 vorhanden, und die Betroffenen glauben, dass sie nichts dagegen tun können. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit – darunter leiden die Menschen am meisten, neben dem Verlust der Stille.

Welche Rolle spielt eine Hörsystemversorgung bei Tinnitus?

Dr. Matthias Rudolph: Wir wissen aus der wissenschaftlichen Leitlinie, dass dem chronischen Tinnitus in 80 bis 90 Prozent aller Fälle eine – oft unerkannte – Schwerhörigkeit zu Grunde liegt. Deshalb ist die Hörsystemversorgung bei Tinnitus mit guten Hörsystemen das A und O der gesamten Behandlung. Es kommen einfach wieder mehr Geräusche im sogenannten Hörhirn an, sodass der Tinnitus fast automatisch in den Hintergrund rückt. Außerdem sinkt der Hörstress, also die permanente Anstrengung, die Schwerhörigkeit zu überspielen oder zu kompensieren. Dadurch sinkt oft schon der Leidensdruck unter dem Tinnitus.

Wie können Sie feststellen, dass eine Hörsystemversorgung bei Tinnitus gegen die Symptome helfen kann?

Dr. Matthias Rudolph: Bei mir gibt es keine Verhaltenstherapie bei chronischem Tinnitus ohne Hörtest. Daran kann ich in der Regel erkennen, ob eine Hörbeeinträchtigung vorliegt und eine Hörsystemversorgung bei Tinnitus sinnvoll sein kann. Bei einem chronischen Tinnitus kann eine Versorgung sogar dann sinnvoll sein, wenn die Kriterien, die im Hilfsmittelkatalog stehen, noch gar nicht erfüllt sind. Hier kommt es immer auf einen Therapieversuch an.

Können Sie uns erfolgreiche Patientenwege nennen, bei denen eine Hörsystemversorgung bei Tinnitus die Situation der Patienten verbessern?

Dr. Matthias Rudolph: Mir fällt eigentlich kein Beispiel ein, bei dem es ohne ging. Es ist allerdings wichtig, im Vorfeldder Hörsystemversorgung klar zu machen, dass es nicht so einfach ist, wie mit einer Brille. Die Anpassung eines Hörsystems ist ein Prozess, der sich über mehrere Monate hinziehen kann. Darauf muss man die Patienten und Patientinnen vorbereiten, um neue Depressionen und Enttäuschungen zu verhindern. Es ist besonders wichtig, zu einem Hörakustiker seines Vertrauens zu gehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Matthias Rudolph ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit einem Schwerpunkt der Verhaltenstherapie. Er besitzt die Zusatzbezeichnungen Diabetologie und Rehabilitationswesen und ist anerkannter Supervisor. Von November 2004 bis Dezember 2023 war Rudolph an der Mittelrhein-Klinik in Bad Salzig der Deutschen Rentenversicherung Rheinland-Pfalz tätig, die er als Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Psychosomatik leitete. Von 2005 bis 2019 leitete er eine Spezialambulanz für Menschen mit adulter ADHS. Er ist stellvertretender Sprecher des fachlichen Beirats der Deutschen Tinnitus Liga und im wissenschaftlichen Bereit von Juvemus e.V. (SHG für Menschen mit ADHS), sowie im Expertenrat ADHS Deutschland
Hier erfahren Sie, was die Auslöser für einen Tinnitus sein können.

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