„Cochlea-Implantate haben einigen Patienten das Leben gerettet“

„Cochlea-Implantate haben einigen Patienten das Leben gerettet“

Wer schlecht hört, kann nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Miteinander teilhaben. Dies kann die Seele belasten und die Lebensfreude trüben. Welche Möglichkeiten der Hörversorgung es heute gibt und wie Cochlea-Implantate Betroffenen ins Leben zurückhelfen können, erläutert Dr. Veronika Wolter im Gespräch.

Frau Dr. Wolter, wieso haben Sie sich auf Innenohr-Prothesen spezialisiert?

Dr. Veronika Wolter: Mein Schwerpunkt ist die Otologie, also alles, was mit Hörstörungen zu tun hat. Dazu gehören die Ohrchirurgie im Allgemeinen und ganz besonders der Einsatz von Innenohr-Prothesen, den Cochlea-Implantaten. Ich selbst habe seit dem neunten Lebensjahr einen Hörschaden und habe über 20 Jahre konventionelle Hörtechnik sowie teil- und vollimplantierte Hörgeräte getragen. Vor 15 Jahren wurde mir ein Cochlea-Implantat eingesetzt. Ich durfte am eigenen Leib erleben, was Hörversorgung für einen entscheidenden Unterschied im Leben eines hochgradig hörgeschädigten oder ertaubten Menschen machen kann, der viel zu schlecht hört, um am Leben teilzunehmen. Dank des Implantats ein „neues Ohr“ zu bekommen, war absolut lebensverändernd und hat mich unendlich fasziniert, weshalb ich dies zu meinem fachlichen Schwerpunkt gemacht habe. Nun kann ich die gleiche positive Veränderung im Leben meiner Patienten hervorrufen.

Wie kann sich schlechtes Hören auf die Gesundheit auswirken? Welche mentalen und körperlichen Beschwerden können damit einhergehen?

Dr. Veronika Wolter: Eine nicht ausreichend versorgte Schwerhörigkeit kann immense Auswirkungen auf die Gesundheit eines Menschen haben. Einerseits kann es zu einer fünf- bis sechsmal höheren Sturzwahrscheinlichkeit kommen, denn gerade bei einer einseitigen Ertaubung fehlt die räumliche Orientierung. Es kann auch zu mentalen und kognitiven Einschränkungen kommen. Wird eine hochgradige Schwerhörigkeit vor allem im Alter nicht oder nicht ausreichend versorgt, besteht ein bis zu fünfmal höheres Risiko für Demenz. Auch bei jüngeren Menschen kann es zu erheblichen Auswirkungen im sozialen Bereich kommen. Viele Patienten neigen zu Depressionen, gesellschaftlicher Isolation oder Arbeitsunfähigkeit. Betroffene selbst wissen oft nicht, wie schlecht sie tatsächlich hören. Deshalb ist es in der Regel auch so, dass das Umfeld die Veränderung zuerst bemerkt. Betroffene spüren, wie sehr Hören sie anstrengt, was sich in Aggressionen äußern kann. Denn es macht wütend, wenn man in einem Gespräch mit mehreren Personen zweimal nachfragt und das Gesagte immer noch nicht verstanden hat. Das wiederum verärgert auch die Betroffenen selbst und wirkt sich zudem auf das Umfeld negativ aus.

Was können Cochlea-Implantate als Gegenmaßnahme bewirken?

Dr. Veronika Wolter: Patienten, die ein Cochlea-Implantat erhalten, können mit einer entsprechenden Heilbehandlung im Anschluss – beispielsweise einer ambulanten Rehabilitation und letztlich einer Langzeit-Nachsorge – mithilfe der Innenohr-Prothese in ein vollwertiges gesellschaftliches Leben zurückgeführt werden. Das 100-prozentige Hörverstehen, das ich selbst mit meinen eigenen Implantaten habe, ist keine Illusion. Viele meiner Patienten können dies erreichen, aber eben nicht jeder. Mir ist wichtig, sie im Vorfeld genau darüber aufzuklären, was die individuelle Erwartungshaltung an diese Behandlungsmethode ist. Wir können das Bestmögliche für jeden Patienten im Vorfeld bestimmen und dank der ambulanten Rehabilitation die Behandlung abschließend begleiten, bis das Ziel erreicht ist.

Wie wirken sich einerseits eine unversorgte Schwerhörigkeit und andererseits eine erfolgreiche Behandlung auf das Privat- und Arbeitsleben aus?

Dr. Veronika Wolter: Ab einem gewissen Grad der Schwerhörigkeit ist es in der Regel zuerst das Umfeld, privat oder beruflich, das bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Im Beruflichen fällt es aber oft stärker ins Gewicht, weil Besprechungen mit mehreren Personen schwerer fallen und weil auch Arbeitskollegen nicht wissen, dass ein Hörproblem besteht. In diesem Kontext fällt eine Schwerhörigkeit schneller auf. Die Folge ist oft, dass sich Betroffene zuerst aus dem Arbeitsleben zurückziehen und beispielsweise nur noch in Teilzeit arbeiten. Oder dass sie bestimmte Besprechungen oder Aufgaben gar nicht mehr übernehmen, weil sie zu anstrengend sind. Danach betrifft es meist auch das nähere private Umfeld. Wenn ich Gespräche beispielsweise beim Kaffeebesuch mit mehr als einer Freundin nicht mehr verstehe, dann lasse ich auch das irgendwann bleiben. Und so zieht sich der Radius immer enger zusammen. Ein kritischer Punkt ist erreicht, wenn man mit den Angehörigen in ruhigerem Umfeld nicht mehr kommunizieren kann. Spätestens dann sollte man den Weg in die Klinik suchen. Solche Verläufe beobachten wir häufig und können glücklicherweise den Weg zurück ins Leben eröffnen, wenn wir die Schwerhörigkeit mit einer entsprechenden Therapie behandeln.

Welche Nachsorge ist nach dem Einsetzen eines Cochlea-Implantats nötig? Muss das Hören neu erlernt werden?

Dr. Veronika Wolter: Das ist tatsächlich bei jedem Patienten anders. Es gibt Patienten, die haben eine kurze Ertaubungsdauer oder eine kurze Zeit, in der sie sehr hochgradig hörgeschädigt waren. Wenn diese ihr Cochlea-Implantat bekommen, haben sie hinterher dementsprechend wenig Nachsorgebedarf. Da braucht es vielleicht nur drei oder sechs Termine innerhalb eines Jahres. Und dann gibt es Patienten, die eine sehr lange Hörbiografie mitbringen, die möglicherweise schon seit der Kindheit hochgradig hörgeschädigt waren oder sind oder eine lange Ertaubungsdauer haben. Ich habe Patienten, die sind seit 40 oder 60 Jahren auf einem Ohr taub. Das Hören mit einem Cochlea-Implantat muss dann natürlich in gewisser Weise neu gelernt werden. Es ist individuell abzustimmen, wie viel Therapiebedarf der Einzelne hat, bis er sein bestmögliches Hörergebnis erreicht.

Welche Rolle spielen technische Fortschritte für die Versorgung von Schwerhörigkeit?

Dr. Veronika Wolter: Was Technik heute leistet, ist faszinierend. Sprachprozessoren sind inzwischen fast unsichtbar geworden und die Konnektivität hat sich enorm weiterentwickelt. Die Verbindung zu den Smartphones erfolgt mittlerweile automatisch. Nur der Hörsysteme-Träger hört, wenn das Handy klingelt. Er hört das Gespräch glasklar auf beiden Ohren, selbst bei Nebengeräuschen. Aus meiner Sicht ist das ein besseres Hörverstehen, als wenn er normal in einer geräuschvollen Umgebung mit seinem Handy telefonieren würde. Wenn man dann noch in die Zukunft blickt und sich abzeichnet, dass Sprachprozessoren dank Künstlicher Intelligenz auch Fremdsprachen werden erkennen können und dem Hörsysteme-Träger während eines laufenden Gesprächs über die Smartphone-App die Übersetzung fast simultan auf Deutsch einspielen, ist das absolut faszinierend. Ich bin unendlich gespannt, was in Zukunft noch kommt.

Wie wichtig ist Aufklärung über Hörprobleme im Kampf gegen Stigmatisierung?

Dr. Veronika Wolter:Ich habe selbst erlebt, wie schlimm es ist, wenn man nicht gut hört. Die Auswirkungen sind jedoch noch nicht ausreichend bekannt, weil Schwerhörigkeit von außen nicht direkt sichtbar ist. Für den Betroffenen selbst ist es zum Glück nicht so, dass er mit Hörgeräten oder Cochlea-Implantaten optisch entstellt ist. Das Problem liegt darin, was das äußere Umfeld dahinter vermutet: Man verwechselt Schwerhörigkeit heute immer noch zu oft damit, dass jemand nicht aufgepasst oder zugehört hat, wenn er oder sie nachfragt. Oder dass er weniger intelligent ist. Da gibt es viele Missverständnisse. Es ist so wichtig, dass wir über Hörprobleme aufklären, denn sie gehören leider zum Alltag: Jeder fünfte Jugendliche hört nicht mehr altersgemäß, ebenso fast alle über 65-Jährigen. Erst im letzten Jahr haben Forscher im Rahmen der Gutenbergstudie zufällig ausgewählte Menschen in der Fußgängerzone untersucht. Bei 48 Prozent, also fast der Hälfte der Untersuchten – haben sie einen Hörgerät-pflichtigen Hörschaden gefunden. Hörprobleme sind sehr weitverbreitet und es ist mir ein echtes Anliegen, darüber aufzuklären, Bewusstsein zu schaffen, auch für die wirklich sehr guten Therapiemöglichkeiten, die wir haben.

Jeder, der nicht ausreichend gut hört und sich bezüglich Hörverbesserungen in ärztliche Hände begeben möchte. Dr. Veronika Wolter appelliert an alle, die schlecht hören: „Suchen Sie den Weg in die Klinik oder zum Hörakustiker. Geben Sie nicht auf. Es gibt unglaublich viele Möglichkeiten, Schwerhörigkeit zu behandeln. Suchen Sie Wege, erkundigen Sie sich – es gibt Lösungen.“

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