Gutes Hören kann verlernt werden
Viele Menschen, die ein Nachlassen ihres Hörvermögens feststellen, zögern zu lange, bevor sie den wichtigen Schritt zum Hörakustiker oder HNO-Arzt gehen – entweder um einen Hörtest zu machen oder um ihre Hörminderung versorgen zu lassen. So können mitunter Jahre vergehen, während derer eine Schwerhörigkeit sich – häufig unbemerkt – schrittweise verschlechtert. Das ist vor allem bei der als „Altersschwerhörigkeit“ bekannten Presbyakusis der Fall. Und diese setzt bereits ab dem 50. Lebensjahr ein.
“Eine Schwerhörigkeit verläuft oft schleichend und wird von den Betroffenen lange nicht bemerkt. Knapp 50 Prozent aller über 50-Jährigen und mehr als drei Viertel aller über 60-Jährigen sind von einer relevanten Hörminderung betroffen”
— PD Dr. med. habil. Jan Löhler, Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für Angewandte HNO-Heilkunde
Dass eine Schwerhörigkeit lange unbemerkt bleiben kann, liegt daran, dass sich Gehör und Gehirn an das nachlassende Hörvermögen gewöhnen. Das Gehirn vergisst nach einiger Zeit regelrecht, wie es ist, normal und gut zu hören: Zum einen werden bestimmte, für das Hörverständnis relevante Bereiche im Gehirn nicht mehr mit Informationen versorgt. Aktive Gehirnareale werden inaktiv und verlieren ihre Fähigkeiten. Zum anderen verlagert das Gehirn aufgrund seiner Plastizität die Funktion des Sprachverstehens in andere Areale. Das ist bei unversorgten Schwerhörigen unter anderem daran erkennbar, dass sie nach einiger Zeit geschickt in der Lage sind, Worte von den Lippen ihrer Gesprächspartner abzulesen. Auch lernt das Gehirn Lücken unvollständig gehörter Sprachinformationen zu füllen, um sich Inhalte zu erschließen, die akustisch nicht wahrgenommen wurden.
Je länger das Gehirn das geminderte akustische Sprachverstehen durch Aktivierung anderer Areale ausgleichen muss, umso länger kann später die Gewöhnung an ein mit Hörsystemen wieder mögliches „normales Hören“ dauern. Speziell geschulte Hörakustiker können diesen Prozess im Rahmen eines Hörtrainings oder einer Audiotherapie professionell begleiten.
Behutsam zurück zum guten Hören
Stimmen, Verkehrslärm, Vogelgezwitscher, das Ticken einer Uhr – all diese Klänge, wenn sie lange Zeit kaum oder gar nicht mehr wahrgenommen wurden, erscheinen neu versorgten Hörgeräteträgern plötzlich unnatürlich laut und werden intensiver als zuvor wahrgenommen. Deshalb sind in der Gewöhnungsphase an neue Hörsysteme Geduld und Ausdauer gefragt. Denn ein Hörgerät funktioniert nicht wie eine Brille, die man aufsetzt und sich sofort an die bessere Sehleistung gewöhnt. Der Prozess, in dem der Träger sich an das wiedergewonnene Hörvermögen gewöhnt, sich mit der Bedienung des Hörsystems vertraut macht und es gemeinsam mit dem Hörakustiker nach und auf an seine individuellen Bedürfnisse abstimmt, nimmt einige Zeit in Anspruch. Um ein optimales Hörerlebnis zu erreichen, bedarf es eines gründlichen und oft langfristigen Anpassungsprozesses.
Hörtraining hilft!
Vielen Menschen, die unter einer Schwerhörigkeit oder einer Hörminderung leiden, hilft ein spezielles Hörtraining zur Verbesserung ihrer Hörleistung. Denn mit – bisweilen unbemerkt – abnehmender Hörfähigkeit nimmt auch die Sensibilität der sogenannten Hörfilter im Gehirn ab. Durch diese können akustische Signale differenziert, wichtige Geräusche fokussiert und unwichtige Geräusche ausgeblendet werden. Sind die Hörfilter eingeschränkt, wirken Hintergrundgeräusche lauter; relevante Sprachinformationen sind dann kaum mehr auszumachen. Auch kann ein Tinnitus gegebenenfalls nicht mehr herausgefiltert werden. Die Folge kann regelrechter Hörstress sein. Mit einem gezielten Hörtraining ist es möglich, die Hörfilterfunktion wieder zu trainieren und innerhalb weniger Wochen erheblich zu verbessern.
Hörfilter im Gehirn sorgen dafür, dass der Mensch nur etwa ein Drittel aller Geräusche, die sein Gehör erreichen, auch bewusst wahrnimmt und verarbeitet. Sie vernachlässigen alles situativ unwesentliche, wie zum Beispiel das Geräusch des eigenen Atems oder des Raschelns von Kleidung. Solche Nebengeräusche, die immerhin knapp 70% der akustischen Reize ausmachen, werden herausgefiltert; damit kann sich das Gehirn auf die Verarbeitung der (ca. 30%) wesentlichen Signale und Informationen konzentrieren und wird nicht von akustischen Reizen überflutet.
Hörgewöhnung nach ganzheitlichem Konzept: Die Audiotherapie
Häufig wird das Hörtraining auch als Teil einer Audiotherapie angeboten. Die Audiotherapie ist ein ganzheitliches Konzept, das speziell für Menschen mit Hörstörungen entwickelt wurde. Das Ziel einer Audiotherapie ist es, Betroffenen ein differenziertes Hören und Verstehen zu ermöglichen, sich besser mit den neuen Hörsystemen zu arrangieren und auch die Kommunikation mit anderen Menschen stetig zu verbessern.
Die Audiotherapie fördert die Rehabilitation Hörgeschädigter mit dem Ziel einer optimalen Kommunikationskompetenz. Audiotherapie kennt keine starren Konzepte, sondern nutzt ein breites Spektrum von Maßnahmen, so individuell, wie die Bedürfnisse des Hörsystemträgers es verlangen.
Audiotherapie darf nur von zertifizierten Audiotherapeuten angeboten werden. Das sind erfahrene Hörakustiker, die sich hierfür umfangreich fortgebildet haben.
Finden Sie Spezialisten für Hörtraining und Audiotherapie in Ihrer Nähe, indem Sie in unserer Hörakustikersuche Ihre Postleitzahl eingeben und dann wahlweise die Filter „Hörtraining“ und/oder „Audiotherapie“ anklicken.
Lernen, neu zu hören: Gewöhnung an Hörimplantate
Hörimplantate wie Cochlea-Implantate (CI) sind kleine Wunderwerke der Technik, die den Schall direkt über den Hörnerv ins Gehirn transportieren. So werden die Haarsinneszellen in der Cochlea überbrückt, wenn diese den Ton durch starke Schädigung nicht mehr transportieren können. Anders als bei frisch versorgten Hörgeräteträgern geht es bei CI-Trägern nicht darum, sich an entwöhnte Höreindrücke wieder zu gewöhnen. Das Hören mit CI ist ein anderes und will tatsächlich neu erlernt werden.
Nach der Implantation eines CI muss das Gehirn erst lernen, die „neuen“ elektrischen Impulse des Implantats zu verarbeiten. Es bedarf daher einiger Zeit und vieler Hörübungen, bis die akustische Umgebung wieder differenziert wahrgenommen werden kann. Denn um das Gehör zu schulen, muss zunächst das Hörzentrum im Gehirn trainiert werden. Damit es gelingt, das Hörzentrum entsprechend zu schulen, gibt es neben der Audiotherapie als Nachsorge der OP zahlreiche Tipps für den Alltag mit Cochlea-Implantat.
Gewöhnung von Kindern an ein CI-Implantat
Viele kennen die rührenden Videos aus den sozialen Medien: Babys oder Kleinkinder hören, dank eines Cochlea-Implantats, zu ersten Mal die Stimmer ihrer Mutter. Die Reaktionen von Mutter und Kind sind herzerwärmend. Über eines dürfen diese Videos aber nicht hinwegtäuschen: Ein Cochlea-Implantat bei Kindern sorgt nicht für eine wundersame Heilung der Hörminderung. Das CI hilft einem Baby auch nicht, sprechen zu lernen. Es bietet dem Säugling vielmehr die Möglichkeit, Töne und Geräusche zu hören. Die eigentliche Arbeit beginnt nach der Implantation mit dem Training von Hör- und Sprachfertigkeiten. Je intensiver mit den Kindern an der Hör-Sprachentwicklung gearbeitet wird, umso schneller und besser lernt das Kind sprechen.
Dabei steht eine förderliche Eltern-Kind-Interaktion im Vordergrund. Durch regelmäßige, anfangs halbjährliche, dann jährliche logopädische Untersuchungen mit standardisierten Testverfahren lässt sich der Entwicklungsstand in den Bereichen Hören, Kommunikation, Sprachproduktion, Sprachverstehen und Mund-Ess-Entwicklung untersuchen. Ab dem zweiten Lebensjahr erfolgt normalerweise eine wohnortnahe logopädische Betreuung. Die jährlichen Untersuchungen und Beratungen sind ein wichtiger Teil der Nachsorge bis ins Schulalter und darüber hinaus. Mehr Informationen zu Cochlea-Implantaten für Kinder erhalten Sie hier.